Artikel "Senior oder Stuntman", erschienen im Schweizer Hauseigentümer, Nr. 12, 1.7.20, Autorin: Agnes Zavala, Journalistin, Zürich
Senior oder Stuntman
Stürze gehören zu den häufigsten Unfallarten. Oft geschehen sie zu Hause, und besonders gefährdet sind ältere Menschen. Darum gilt es, Stolperfallen daheim zu vermeiden und mit dem richtigen Training vorzubeugen.
Pro Jahr verletzen sich gemäss der Beratungsstelle für Unfallverhütung bfu in der Schweiz ber 280 000 Personen durch einen Sturz. Davon sind rund 15 000 Fälle schwerwiegend und 1650 tödlich. Mit 90 Prozent am meisten betroffen sind bei Letzterem die Senioren.
Stürze aus der Höhe …
ie Statistiken besagen, dass Sturzunfälle oft in den eigenen vier Wänden oder im Garten passieren. Die zweithäufigste Kategorie weist dabei eine Höhendifferenz auf. Es handelt sich also um Stürze von Treppen sowie Leitern, Hockern oder Stühlen, die zum Herunterholen von Sachen, Aufhängen von Bildern, Austauschen von Glühbirnen oder für Putzarbeiten benutzt werden. Aber auch Borde, Abstufungen oder erhöhte Terrassen im Garten bergen ein Gefahrenpotenzial. Als Vorsichtsmassnahme empfiehlt das bfu, an allen Treppen ein gut verankertes Geländer anzubringen. Auch mögliche Absturzstellen im oder ums Haus sollten mit einem Zaun gesichert werden. Als Aufstiegshilfen verwendet man idealerweise nur stabile und dafür vorgesehene Möbelstücke, die man nie eilig hinauf- oder hinunterklettert, sondern immer wohlüberlegt und mit ausreichender Abstützmöglichkeit in Greifnähe. …
...und ebenerdig
Fast zwei Drittel aller Sturzunfälle geschehen allerdings ebenerdig. Als unglückliche Klassiker diesbezüglich gelten Läufer, Fussmatten oder hochstehende Teppichecken sowie herumliegende Gegenstände oder lose Kabel. Mit der Wahl von Ausführungen mit rutschhemmender Unterseite beziehungsweise mit Ordnung und einem fachgerechten Verlegen oder Fixieren kann man hier das Risiko entscheidend mindern. Des Weiteren sollte man Löcher in der Gartenerde oder auf Gartenwegen so schnell wie möglich ausbessern. Dasselbe gilt für kaputte Bodenbeläge, die gegebenenfalls auch ersetzt werden müssen. Und nicht zu vergessen: Schlecht sitzende oder offene Hausfinken können ebenfalls für Stürze verantwortlich sein! Ebenfalls häufige Ursachen sind glatte, verschmutzte oder nasse Oberflächen. Daher sollte man nach dem Ausschütten von Flüssigkeit den Boden stets sofort aufwischen. In der Badewanne oder Dusche kann man zudem Gleitschutzstreifen anbringen. Für Bad und Küche empfiehlt sich das Verwenden rutschhemmender Bodenbeläge, und in den Nasszellen haben sich stabile Haltegriffe an den Wänden bewährt. Eine Gefährdung, derer man sich im ersten Moment nicht unbedingt bewusst ist, stellt eine mangelnde Beleuchtung dar. Nicht nur, dass man im Dunkeln Treppenstufen und Hindernisse weniger gut erkennt, mit zunehmendem Alter verschlechtert sich ausserdem das Sehvermögen des Menschen.
Körper und Psyche
Aber auch die Kraft, der Gleichgewichtssinn und die Reaktionsfähigkeit nehmen im Laufe der Zeit ab, was zur erhöhten Sturzgefährdung bei Senioren beiträgt. Barbara Nanz, Physiotherapeutin in Wald (ZH) und Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie, weiss: «Bereits ab dem 20. Lebensjahr verliert der Mensch Muskelmasse, später beschleunigt sich jedoch dieser Prozess. Gleichzeitig werden wir im Alter ungelenker und langsamer.» Damit beginnt ein Teufelskreis, denn ausgerechnet eine langsamere Bewegung braucht mehr Kraft und Koordination. Weil die Knochen nicht mehr die gleiche Resistenz aufweisen, haben Unfälle bei Senioren häufiger schwerwiegende Folgen, sowohl für die Gesundheit wie auch für die Mobilität und das selbstständige Wohnen. Besonders gefürchtet sind in diesem Zusammenhang die Schenkelhalsbrüche. Angst ist aber ein schlechter Ratgeber, denn dadurch bewegt man sich noch unsicherer, zögerlicher oder weniger. «Unser Körper und unsere Fähigkeiten müssen jedoch gebraucht werden, um erhalten zu bleiben. Je älter wir sind, umso wichtiger ist das», sagt Barbara Nanz. Durch eine aktive Lebensgestaltung kann der Kraftabbau verlangsamt werden und der Körper möglichst elastisch bleiben. Auch die geistige Fitness ist zentral, genauso wie der Gemütszustand oder soziale Kontakte. All dies kann auch helfen, Appetitlosigkeit und einer mangelhaften Ernährung vorzubeugen, die bei Rentnern immer wieder beobachtet werden. Dabei ist eine ausreichende Zufuhr von Vitaminen, Mineralstoffen und Eiweissen wichtig für die Stärkung des Körpers. Sicher dank Training Sturzprophylaxe ist somit gerade mit fortschreitendem Alter das A und O. Neben dem Eliminieren der häufigsten Stolperfallen zu Hause sollten daher auch der Aufbau von Kraft, Gleichgewicht und Ausdauer sowie die Steigerung von Koordination, Konzentration und Beweglichkeit beachtet werden. Doch wann weiss man, dass der Zeitpunkt für zusätzliche Massnahmen gekommen ist? «Das ist natürlich von der individuellen Konstitution abhängig», erklärt Barbara Nanz. «Aber nach meiner Erfahrung merken die Leute, wenn es eine Veränderung in ihrer Trittsicherheit gibt.» Ein Selbsttest kann letzte Zweifel beseitigen. So kann man beispielsweise ausprobieren, ob man noch ohne Hilfe des Geländers eine Treppe emporsteigen oder mit voreinander gestellten Füssen das Gleichgewicht halten kann. Für welche Massnahme man sich entscheidet, ist ein grosses Stück weit eine Frage der persönlichen Vorliebe: Krafttraining im Fitnesscenter, gezielte Übungen zu Hause, Spazieren und Wandern, Gartenarbeit, aber auch ein Tanzkurs oder Tai-Chi sind Möglichkeiten. Wichtig ist, dass es ein regelmässiges Training ist. Bei einem starken Defizit oder bei Unsicherheit sollte man aber unbedingt einen Physiotherapeuten aufsuchen. In einem standardisierten Test kann er die Sturzgefährdung abschätzen und ein systematisches Aufbauprogramm, individuell oder in der Gruppe, massschneidern. Mit einer ärztlichen Verordnung sind solche Behandlungen in der Regel von der Krankenkasse gedeckt, bei Gruppenangeboten bekommt man je nach Versicherer und Qualifikation der Kursleitung einen Kostenbeitrag.
Übung macht den Meister
Ausserdem empfiehlt die Expertin in Ergänzung dazu ein gezieltes Sturztraining: «Stürzen will schliesslich gelernt sein! Je entspannter und gekonnter man fällt, desto weniger Schaden nimmt man.» Nur ist das einfacher gesagt als umgesetzt. Barbara Nanz arbeitet in einer speziell dafür ausgestatteten sicheren Übungsanlage, die unter anderem aus einem hohen, breiten Bett und weichen Unterlagen besteht. In einem sich steigernden Programm werden geeignete Strategien schrittweise erlernt und automatisiert. Ziel ist es, sich beim Fallen nicht zu verkrampfen oder zu wehren, sondern so zu verhalten, dass der Sturz möglichst glimpflich endet – unabhängig davon, ob er vorwärts, seitwärts oder rückwärts passiert. WEITERE INFOS
Stärkungsübungen im Alltag
Neben Kraft-, Ausdauer- und Koordinationstraining empfiehlt die Physiotherapeutin Barbara Nanz leichte Übungen zu setzen, die sich gut in die tägliche Routine integrieren lassen:
■■ Variieren Sie beim Gehen. Gehen Sie in verschiedenen Geschwindigkeiten (je langsamer,desto anspruchsvoller), und machen Sie unterschiedlich grosse Schritte, auch einige rückwärts, seitwärts oder mit sich überkreuzenden Beinen.
■■ Balancieren Sie auf dem Randstein oder versuchen Sie, auf einer Linie zu gehen.
■■ Putzen Sie auf einem Bein stehend die Zähne.
■■ Gehen Sie auf verschiedenen Unterlagen (harte, weiche, unebene Böden), mit verschiedenen Schuhen oder auch barfuss.
■■ Stehen Sie auf ein Kissen und halten Sie das Gleichgewicht (mit Abstützmöglichkeit!).
■■ Machen Sie zwischendurch ein paar Kniebeugen, gerne auch mit alltäglichen Gewichten wie Milchpackungen, Zeitungbündel- oder Pet-Flaschen.
■■ Vermeiden Sie es, zu hetzen! «Ich wollte doch nur schnell …» ist die häufigste Sturzursache, die ich in der Praxis höre.
Weitere Infos:
www.prosenectute.ch
ww.gesundheitsfoerderung.ch
www.bfu.ch
www.sichergehen.ch. Das bfu hat zusammen mit Pro Senectute, der Gesundheitsförderung Schweiz und weiteren Partnern die Kampagne «sicher stehen – sicher gehen» ins Leben gerufen. Auf folgender Website gibt es Anleitungen für Übungen zu Hause und zu Kursen in verschiedenen Regionen des Landes: